Das Konzept der Morgenseiten hat die Schrifstellerin Julia Cameron entwickelt und in Büchern wie Die Kunst des Schreibens oder Der Weg des Künstlers beschrieben. Sie hat festgestellt, dass morgendliches freies Schreiben ohne Vorgabe Kreativität fördert.

Und das ist nicht alles. Morgendliches Schreiben tut auf jeder Ebene gut.
Morgenseiten zu schreiben bedeutet, den Tag mit dem Wesentlichsten, dem Bedrohlichsten und dem Wandelbarsten zu beginnen: Mit dir selbst.
Bevor du beginnst, zu funktionieren, schreibst du.
Bevor du für andere da bist, begegnest du dir selbst. Morgenfrisch, traumverhangen, schläfrig, benommen.
Vielleicht bleibst du einfach in deinem kuscheligen Bett und greifst dein Notizbuch vom Nachtisch. Vielleicht kochst Du Dir auch erst einmal einen Kaffee oder Tee.
Vielleicht ziehst du deinen Schreibtisch vor oder deinen Balkon, die Hollywood auf deiner Terrasse, die ersten Sonnenstrahlen.
Schreibe mit der Hand, auch wenn es ungewohnt ist. Schreibe in ein schönes Notizbuch mit weichem oder rauhem Papier, je nachdem, was dich mehr anspricht. Gönn Dir einen guten Füllfederhalter, mit dem das Schreiben sanft und angenehm von der Hand geht.
Mach Dir keine Gedanken. Nimm dir nichts vor. Mach nichts richtig. Schreib einfach.
Deine einzige Aufgabe ist es, drei Seiten (wie groß auch immer) zu füllen, ohne den Stift abzusetzten. Das ist, was du tust. Um die Worte selbst kümmerst du dich nicht. Dein Bewusstsein schafft den Rahmen, dein Vorbewusstes liefert den Inhalt. Es ist nicht wichtig, grammtikalisch korrekt oder gar stilistisch ansprechend zu formulieren. Lass einfach auf dem Papier sich zeigen, was gerade, direkt nach dem Aufstehen, in deinem Kopf vor sich geht. Vielleicht fängst du die letzten Traumfetzen ein, bevor sie ins Vergessen sinken. Vielleicht gibt es eine Trauer, eine Wut, einen Schmerz in deinem Körper, deinem Geist. Vielleicht ist dein Nacken verspannt oder pocht dein Kopf. Vielleicht denkst du an deine Beziehungen oder spürst dem vergangenen Abend nach. Vielleicht schmiedest du Pläne, plottest aus Versehen dein neues Buch, deine nächstes Projekt, vielleicht entwickelst du ein Märchen für ein Kind. Vielleicht beschäftigen dich auch primär die Steuererklärung, der Einkauf, die Wäsche. Vielleicht schreibst du auch einfach: „Ich weiß nicht, was ich schreiben soll soll soll da ist nichts nicht und niemand keiner da alles Zwang keine Lust lieber Schlafen so sehr träge lieber nicht müssen nichts müssen lieber liegen bleiben lieber nicht tun lieber nicht lieber allein groß und frei buntes Bett Vogel Vögel laut vorm Fenster mal einen Vogel schnappen und das Genick kancken lassen dass mal Ruhe ist und noch einen und noch einen mal eine Katze sein und in Bäume springen überhaupt sehr frei und ganz unbekümmert…“

Je öfer es dir gelingt, dir selbst diese Zeit für Dich einzuräumen, desto mehr wirst du über dich erfahren. Über deine Mühen, deine Monster, deine Bedürnisse.
Du trägst den Schlamm der Sorgen, des Alltages ab und kannst so klarer in die Begegnungen deines Tages gehen.
Du gräbst verborgene Erinnerungsstücke aus, kannst sie betrachten und sie an den Ort legen, an dem Du sie gern hättest.
Du untersuchst deine Wunden, du wirst betroffen sein vom deinem Schmerz und auf Dauer fürsorglich.
Wenn du deinen Morgenden nicht die Zeit fürs Schreiben abringen kannst, weil Du sowieso um jede Minute Schlaf kämpfst oder stark gefordert von familiärene Verpflichtungen bist oder was auch immer, dann finde eine andere Zeit im Laufe des Tages.
Wichtig ist bloß, dass du die Verabredungen mit dir selbst auf dem Papier zu einem festen Ritual in deinem Alltag werden lässt.